Die Mittagsfrau by Julia Franck

Die Mittagsfrau by Julia Franck

Autor:Julia Franck
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Fischer e-book
veröffentlicht: 2011-06-23T18:01:08+00:00


Carl führte Helene in die Staatsoper Unter den Linden, sie hörten den Singenden Teufel und standen zwanzig Minuten klatschend, obwohl Pfiffe in ihren Ohren gellten, und während Helenes Hände vom Klatschen schmerzten, hoffte sie, dass Carl nicht den Menschen zur Tür folgen würde. Aber das Unvermeidliche trat ein. An der Garderobe bat Helene Carl, sie noch nicht nach Hause zu bringen. Helene wollte noch in die Nacht spazieren. Der Schnee fiel in dicken Flocken und blieb kaum auf dem nachtschwarzen Pflaster liegen. Carl und Helene gingen am Adlon vorbei. Der Schnee schmolz auf Helenes Zunge. Vor dem Eingang des großen Hotels hielten stattliche Karossen und ein Menschenauflauf verriet die erwartete Ankunft eines hohen Gastes.

Du frierst und bist müde, ich bringe dich nach Hause.

Bitte nicht. Helene blieb jetzt stehen. Carl suchte mit seinen Händen nach Wärme in ihrem felligen Muff.

Wir können hier nicht stehen bleiben, sagte Carl.

Ich komme mit zu dir, in deine Kammer. Sie hatte es gesagt, einfach so.

Carl zog seine Hände von ihr fort. Er traute seinen Ohren nicht. Wie oft hatte er Helene gedrängt, sie möge ihn begleiten, wie oft hatte er sie beruhigt, dass er alle Schlüssel habe und die Vermieterin schwerhörig sei. Ich freue mich, sagte er leise und küsste ihre Stirn.

Auf dem Weg zum Viktoria-Luise-Platz beharrte sie darauf, dass man nicht bei der Tante anrufen sollte. Dort kümmerte niemanden ihr Verbleib und falle es im Zweifel nicht mal auf, wenn sie nicht kam. Helene kannte Carls Kammer unter dem Dach. Sie hatte ihn schon tagsüber dort besucht. Dennoch erkannte sie das Zimmer kaum wieder. Das Licht der elektrischen Lampe ließ die Farben schal erscheinen, seine Bücher stapelten sich auf dem Boden, das Bett war nicht gemacht. Es roch nach Urin, als habe er den Nachttopf nicht geleert. Carl hatte nicht mit ihrem Besuch rechnen können. Er entschuldigte sich jetzt und schlug eilig die Decke über das Bett. Sie könne ein Nachthemd von ihm geliehen haben, ob er ihr vorlesen dürfe. Seine Stimme war trocken und die abgehackten Bewegungen verrieten, wie ungeheuer ihm ihre Anwesenheit, womöglich ihr ganzes Wesen und Dasein, war.

Liest du noch Hofmannsthal? Sie nahm das Nachthemd entgegen und setzte sich im geschlossenen Mantel auf seinen Stuhl am Schreibtisch.

Er wies auf die Bücher am Boden. Gestern abend Spinoza, wir vergleichen im Seminar seine Ethik mit der dualistischen Weltanschauung von Descartes.

Davon hast du noch gar nichts erzählt. Helene sah Carl misstrauisch an, sie konnte ihre glatte Stirn nicht runzeln, die feinen Falten, die sich über ihrer kurzen Nase bildeten, sahen einfach zu komisch aus.

Bist du eifersüchtig? Carl neckte sie, obwohl er wissen muss te, dass es ihr ernst war und sie tatsächlich eifersüchtig auf sein Studium war, nicht, weil sie ihn für sich allein haben wollte und ihm das Studium nicht gönnte, sondern weil sie selbst gern daran teilgenommen hätte.

Deine Schuhe sind ganz nass, warte, ich ziehe sie dir aus. Carl bückte sich vor ihr zu Boden und zog ihre Schuhe aus. Und kalt sind deine Füße, eisig. Hast du keine Winterstiefel? Helene schüttelte den Kopf.



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